Kommentar der Botschaft zum Artikel von A.Rüesch in der NZZ vom 13. Juni 2024 «Die Legende vom verhinderten Frieden»
Herr Andreas Rüesch, ein in der Schweiz bekannter «Russland-Kenner» von der Neuen Zürcher Zeitung, brach einen weiteren Artikel mit Vorwürfen gegen unser Land und persönlich unseren Präsidenten aus. Moskau lüge über die russisch-ukrainischen Verhandlungen in Istanbul und darüber, dass der kollektive Westen, vor allem vertreten durch den ehemaligen britischen Premierminister Boris Johnson, den Abschluss des Friedensabkommens torpediert habe, so der Autor. Dabei glaubt er weder dem russischen Präsidenten noch dem Fraktionsvorsitzenden von Selenskis Partei «Diener des Volkes» in der Werchownaja Rada, David Arachamija, den er jedoch in seinem Artikel erwähnt. Doch bestätigte der ukrainische Unterhändler in einem Interview mit dem ukrainischen Fernsehsender 1+1 im November 2023 öffentlich, dass Mr. Johnson gefordert hatte, Kiew solle keine Abkommen mit Russland schliessen und die Kampfhandlungen fortsetzen. Der schweizerische Journalist will selbstverständlich besser wissen, wie die Verhandlungen in der Türkei verliefen – er war doch offensichtlich unter den Teilnehmern und weiss mehr als Herr Arachamija oder selbst Wladimir Putin. Oder doch eben nicht?
Wir sind immer noch geneigt, dem zu vertrauen, was die Teilnehmer an diesen Ereignissen selbst behaupten. Der erwähnte Mr. Johnson «empfahl» Selenski bei seinem Besuch in Kiew am 9. April 2022, den Kampf fortzuführen und versprach langfristige militärische und finanzielle Unterstützung. Informationen darüber wurden z.B. in der pro-ukrainischen Zeitung Ukrainskaja Prawda (auf Deutsch: «Ukrainische Wahrheit») im Mai 2022 veröffentlicht, auch in englischer Sprache. Es ist darauf hinzuweisen, dass dies schon lange vor den Äusserungen des russischen Präsidenten erfolgte. Mr. Johnson selbst bestreitet das nämlich auch nicht. Im Mai 2022 erklärte der Brite in einem Telefongespräch mit dem französischen Präsidenten M. Macron, er habe während seines Besuchs in Kiew «vor jeglichen Verhandlungen mit Russland unter Voraussetzungen gewarnt, die dem falschen Narrativ des Kremls für die Invasion Glauben verleihen können» (das kann man in der Pressemitteilung auf der Webseite der Regierung lesen), indem er routinemässig feststellte, «die Ukrainer sollten selbst entscheiden» (urged against any negotiations with Russia on terms that gave credence to the Kremlin’s false narrative for the invasion). Übersetzt aus dem «diplomatischen Englisch» bedeutet dies eben «riet von jeder Vereinbarung mit den Russen ab». Im Januar 2024 bezeichnete zwar der Brite in The Times und The Wall Street Journal die an die ukrainische Presse durchgesickerten Informationen als «russische Propaganda», bestätigte dabei jedoch mit seiner üblichen Aufrichtigkeit seine damalige Aussage in Kiew, jedes Abkommen mit Putin wäre ziemlich verdorben (any deal with Putin was going to be pretty sordid). Glaubt der Autor wirklich, dass man dies als Mr. Johnsons Aufruf an Kiew bezeichnen kann, ein Friedensabkommen mit Russland zu unterzeichnen?
Herr Rüesch scheut sich nicht, Wladimir Putin einen «Vertragsbruch» unverhohlen vorzuwerfen. Wir möchten ihn fragen: Gegen welche Verträge hat Moskau etwa verstossen? Vielleicht hat der Journalist es mit Washington verwechselt? Für diejenigen, die es vergessen haben, sei daran erinnert, dass es die Vereinigten Staaten waren, die die strategische Stabilität in Europa und der Welt untergraben haben, indem sie einseitig aus den ABM-, INF- sowie den OH-Verträge ausgestiegen sind. Vielleicht erinnert der Autor damit an die Vereinbarung zwischen dem ukrainischen Präsidenten Janukowitsch und der ukrainischen «Opposition», deren Garantiemächte Deutschland, Frankreich und Polen waren und die von ukrainischen Neonazis innerhalb weniger Stunden mit stillschweigender Zustimmung des Westens mit Füssen getreten wurde? Oder bezieht er sich auf die Minsker Abkommen, die nach den Aussagen der ehemaligen deutschen und französischen Regierungschefs Angela Merkel und François Hollande weder die Ukraine noch ihre westlichen Schirmherren einhalten wollten?
Der Journalist versucht dann, Wladimir Putin zu beschuldigen, er habe kein fertig ausgehandeltes Friedensabkommen gezeigt und bis heute keine Unterschriften präsentiert. Dabei verweist er auf rot markierte Buchstaben und «das falsche Datum» auf dem Dokument (15. April 2022, was nach Johnsons Besuch in Kiew entstanden sei) und erklärt beiläufig, wer das diplomatische Geschäft kenne, der wisse: «Nichts vereinbart ist, bis alles vereinbart ist». Besten Dank, Sie haben uns aufgeklärt – jetzt sind auch die russischen Diplomaten im Bilde, dass ein Vertrag erst abgestimmt und dann unterzeichnet werden muss.
Den Lesern, die sich nicht besonders gut mit Diplomatie auskennen (wie das «Diplomaten-Ass» Rüesch), möchten wir erklären, dass internationale Dokumente gerade auf diese Weise vorbereitet werden. In den Entwürfen der Vertragsparteien wird in der Regel angegeben, dass dieser Text «per» ein bestimmtes Datum gilt, z.B. per 15. April 2022 («Stand: 15. April 2022»), was eben nicht bedeutet, dass dieses Dokument genau an diesem Tag erschienen ist. Es kann sich um die zehnte (oder hundertste) Fassung des ursprünglichen Entwurfs handeln. Der vereinbarte Text eines Dokuments wird zunächst von den Unterhändlern auf jeder Seite paraphiert (unterzeichnet), und endgültige Unterzeichner des Originalvertrags sind oft nicht diejenigen, die das Dokument ursprünglich ausgehandelt haben. «Unterzeichnet» und «paraphiert» sind also, wie man in der russischen Stadt Odessa sagt, «zwei grosse Unterschiede». Vielleicht hat die Übersetzung ins Schwizerdütsch Bedeutung verzerrt? Aber die Behauptung von Herrn Rüesch, der Vertrag sei erst nach dem Johnsons Kiew-Besuch entstanden, d.h. nach dem 9. April 2022, ist, gelinde gesagt, falsch. Derselbe Brite besuchte z. B. Selenski auch noch im Juni und August 2022. Wenn der Journalist wirklich an der «Wiederherstellung der Wahrheit» interessiert wäre, hätte er im Internet (wir leben doch im 21. Jahrhundert, man braucht nicht einmal in die Archive zu gehen) z. B. die Erklärungen des russischen Präsidenten beim Treffen mit dem belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko vom 12. April 2022 ganz leicht finden können. Damals erklärte Putin, der Verhandlungsprozess in Istanbul sei in eine Sackgasse geraten, weil die ukrainische Seite von früheren Vereinbarungen abgerückt sei. Dies war genau zwei Tage nach dem Besuch von Mr. Johnson in Kiew. Ein Zufall?
Herr Rüesch schliesst sein Werk mit dem schon zum Überdruss gewordenen Vorwurf, dass es «Wladimir Putin sei», der für die Entfesselung des «Krieges in der Ukraine» verantwortlich sei. Wir verstehen, dass der schweizerische Journalist damit seinen bescheidenen Beitrag zur Schaffung der «notwendigen» Atmosphäre vor der gescheiterten «Friedenskonferenz» auf dem Bürgenstock leisten wollte. Wir werden auf seine offensichtliche Voreingenommenheit und Fehlerhaftigkeit solcher Aussagen nicht wieder hinweisen. Wir empfehlen der interessierten Leserschaft, sich mit der Friedensinitiative, die der Präsident Russlands bei einem Treffen mit der Führung des russischen Aussenministeriums am 14. Juni 2024 vorstellte, vertraut zu machen. In seiner Rede schlug Wladimir Putin nicht nur die Schaffung einer neuen kontinentalen Sicherheitsarchitektur in Eurasien vor, sondern schilderte wiederum ausführlich sowohl den Verlauf der Verhandlungen in Istanbul, als auch den gesamten Hintergrund des Ukraine-Konflikts. Der Präsident Russlands bekräftigte noch einmal, dass sich unser Land seiner Verantwortung für die Stabilität in der Welt bewusst ist, und bestätigte seine Bereitschaft, mit allen Ländern zu sprechen. Nach seinen Worten sollte es sich jedoch um «ein ernsthaftes, ausführliches Gespräch über alle Themen, über das gesamte Spektrum der weltweiten Sicherheitsfragen» handeln.
Und Herr Rüesch braucht sich offensichtlich nicht mit der Rede von Herrn Putin vertraut zu machen – er ist doch selbst Alleswisser.
Pressedienst der Russischen Botschaft in der Schweiz