Kommentar der Botschaft der Russischen Föderation in der Schweiz im Zusammenhang mit der Publikation «Wie an einem Panzer prellt alles an ihm ab», die Weltwoche, 25. November 2020
Der am 25. November 2020 in der Weltwoche veröffentlichte Artikel des britischen Journalisten Edward Lucas zog unsere Aufmerksamkeit auf sich. Der Autor versucht die russische Aussenpolitik aus der Position eines Russland-Experten unter die Lupe zu nehmen. Aus unserer Sicht ist er dabei wenig erfolgreich. Der Grund ist offensichtlich – Herr Lucas zog seine weitreichenden Schlussfolgerungen, indem er sich auf schäbige und den Tatsachen widersprechende Schablone stützte.
So wie in der Schweiz gibt es in Russland ein offizielles Dokument, das die aussenpolitischen Prioritäten für einige Jahre definiert – die Konzeption der Aussenpolitik der Russischen Föderation. Darin ist klar festgelegt, dass unser Ziel im Aufbau einer gerechten und stabilen Weltordnung auf der Grundlage der allgemeinen Normen des Völkerrechts und Grundsätze der Gleichberechtigung, gegenseitigen Achtung und der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten anderer Staaten besteht.
Laut der Verfassung der Russischen Föderation bestimmt der Präsident den aussenpolitischen Kurs des Landes. Es ist abwegig, zu behaupten, dass das Aussenministerium Russlands sich an der Ausarbeitung der aussenpolitschen Strategie nicht beteiligt. Neben unserem Ministerium nehmen an diesem Prozess auch eine Reihe anderer russischer Ministerien und Behörden teil.
Es ist uns absolut unverständlich, warum der Autor die Auffassung vertritt, dass die Bevölkerung unseres Landes den offiziellen aussenpolitischen Kurs nicht unterstützt. Alle Umfragen beweisen das Gegenteil: die Mehrheit der Russinnen und Russen befürworten ihn.
Wir haben schon Tausend Mal auf verschiedenen Ebenen die sich wiederholenden einseitigen westlichen Deutungen der Konflikte in Georgien und in der Ukraine kommentiert. Für Russland sind Bemühungen um gute nachbarschaftliche Beziehungen eine Selbstverständlichkeit. Mehr als wir, ist kaum jemand daran interessiert. Offensichtlich ist auch, dass mit Beteiligung fremder Kräfte entlang unserer Grenzen Spannungsherde geschaffen werden. Von Herrn Lucas erwähnte Georgien und die Ukraine liefern dazu Paradebeispiele.
Man darf nicht vergessen, dass die Ereignisse im Jahr 2008 in Georgien auf Initiative der Europäischen Union von der Internationalen Kommission zur Untersuchung des Krieges im Südkaukasus unter der Leitung der Schweizer Diplomatin Heidi Tagliavini ausführlich geprüft wurden. Die Kommission kam zum Schluss, dass Georgien die Kampfhandlungen entfesselte. Angegriffen wurden u.A. russische Friedenstruppen, 78 Friedensstifter starben dabei. Die Gewaltanwendung von Russland zum Abwehr der Aggression wurde als legitim anerkannt. An diese unbequeme Wahrheit will man sich hier scheinbar nicht erinnern.
Ähnliche Herangehensweise kommt zum Einsatz bei der Deutung des Konflikts in der Ostukraine, der seit über sechs Jahren dauert und bereits Tausenden von unschuldigen Menschen das Leben gekostet hat. Den Friedensplan für Donbass und den Mechanismus der praktischen Umsetzung gibt es schon seit fünf Jahren. Der langersehnte Frieden in dieser Region tritt jedoch bis jetzt nicht ein, weil Kiew bei stillschweigender Zustimmung des Westens die Erfüllung des politischen Teils der Vereinbarungen nach wie vor sabotiert. Die ukrainische Regierung strebt eigenwillig dessen Revision an und versucht, reelle Krisenbewältigung durch einen endlosen Verhandlungsprozess zu ersetzen.
Bedauerlicherweise herrscht in den westlichen Ländern, u.A. dank den hiesigen Medien, die Tendenz, Russland total zu dämonisieren, was der Gesellschaft unmöglich macht, ein realistisches Bild unseres Landes zu gewinnen.
Nicht gerne erinnert man sich hier auch, dass die Entstehung der Krisenherde vornehmlich im Nahost (beispielsweise im Irak und Libyen) und die darauffolgenden Ausbruch des internationalen Terrorismus und der Migrationskrise gerade auf die Kosten der westlichen Koalition gehen, deren Handlungen in mehreren Fällen in die direkte militärische Aggression gegen souveräne Staaten ausartete mit dem erklärten Ziel einer „Zwangsdemokratisierung“. Russland im Gegenteil trug in Syrien massgeblich dazu bei, die globale terroristische Bedrohung zu beseitigen, nämlich den Islamischen Staat.
Was die von Herrn Lucas erwähnte angebliche Geschichtsumschreibung in Russland betrifft, so fällt es uns schwer zu erahnen, wie er auf diesen Gedanken kam. In diesem Jahr begehen wir den 75. Jahrestag des Sieges im Zweiten Weltkrieg. Und die Versuche, die Geschichte auf grobe Weise umzudeuten, indem man nazistische Henker und Befreier Europas gleichstellt, gehen nicht von uns aus. Wir belassen solche Versuche auf dem Gewissen ihrer Autoren. Nichts und niemand vermag, die entscheidende Rolle der Roten Armee, aller Völker der Sowjetunion bei der Zerschlagung des Faschismus zu schmälern.
Gerechtigkeitshalber sei daran erinnert, dass Anfang der 90er Jahre unser Land sich nach den westlichen Standards zu orientieren begann und dabei auf viele Zugeständnisse einging, weil uns versprochen wurde, unsere Souveränität und Sicherheit zu achten. Die meisten dieser Versprechen wurden gebrochen. Nur ein Beispiel: die Organisation des Warschauer Vertrages – Gegengewicht zur Nato im kalten Krieg – wurde aufgelöst, die Nordatlantik Allianz setzte ihren Erweiterungskurs trotz anderweitigen Beteuerungen jedoch fort und nährte sich Grenzen Russlands an.
Die Aussagen des Autors, wonach grosszügige Investoren Milliarden in unsere Wirtschaft eingepumpt hätten, halten ebenfalls nicht Stich. Wo haben Sie ein Business gesehen, das sich selbst Verluste zufügt? Das Gegenteilige war der Fall. In dieser Transitphase beraubte man unser Land mit ausgeklügelten Schemen um Hunderte Milliarden US-Dollar, deren wesentlicher Teil auf Konten in den westlichen Ländern landete.
Allmählich haben wir gelernt, auf diese Herausforderungen angemessen zu reagieren. Heute nehmen wir genau unsere nationalen Interessen wahr und verfolgen sie konsequent. Dabei bleiben wir für einen Dialog auf Augenhöhe und für eine gegenseitig vorteilhafte Zusammenarbeit offen.
Bei aller Widersprüchlichkeit des Artikels von Herrn Lucas spürt man nichtsdestotrotz seinen tiefen Respekt gegenüber dem Aussenminister der Russischen Föderation Herrn Sergei Lawrow. Darin sind wir uns einig.