Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen
Im Zusammenhang mit der Publikation von Frau Breier in der NZZ vom 9. Februar „Auch 1989 ahnte niemand, wie schnell sich Russland verändern kann“ möchte ich hiermit einige Gedanken äussern.
Was den Fall Nawalny betrifft, so hat die Botschaft zu diesem ungerechterweise überhitzten Thema schon mehrmals Erläuterungen abgegeben. Wir rufen erneut dazu auf, dass, was sich rund um diesen Menschen geschieht, nicht unnötig zu politisieren, sondern es besonnen und nüchtern zu betrachten.
Eine unangefochtene Tatsache ist, dass Nawalny die russische Gesetzgebung verletzte, er verstiess nämlich gegen die Bewährungsauflagen. Wichtig zu betonen wäre, dass entgegen der Darstellung der westlichen Medien seine Behandlungszeit in der Berliner Universitätsklinik Charité vom Föderalen Strafvollzugsdienst Russlands ausgenommen wurde. Nawalny ist der einzige Gesetzbrecher im modernen Russland, der gleich zwei bedingte Strafen hatte. Zudem reiste er allen Normen und Vorschriften zum Trotz regelmässig ins Ausland, was den Verurteilten auf Bewährung eigentlich nicht erlaubt ist.
Die Umwandlung der Bewährungsstrafe in die Haftstrafe ist bei weitem keine Seltenheit – allein im letzten Jahr gab es in Russland elf Tausend solcher Fälle. Das Strafverfahren gegen Nawalny wegen Betruges, initiiert von Yves Rocher im Jahr 2012, hatte mit Politik nichts zu tun. Das französische Unternehmen bestätigte dies in seiner am 3. Februar 2021 veröffentlichten Pressemitteilung. Keinen politischen Hintergrund im Nawalnys Fall fand auch das Europäische Gericht für Menschenrechte, wie es aus seiner Entscheidung aus dem Jahr 2017 hervorgeht.
Was die angebliche „Vergiftung“ Nawalnys anbelangt, so möchten wir darauf aufmerksam machen, dass ihre Spuren weder russische noch deutsche zivile Ärzte nachweisen konnten. Lediglich militärische Spezialisten wollen auf mysteriöserweise etwas entdeckt haben. Ausser grundlosen öffentlichen Vorwürfen wurden bis jetzt aber keine sachlichen Beweise vorgebracht. Die russische Seite schlug von Anfang an vor, gemeinsam der Sache nachzugehen. Unsere Experten waren bereit, ins Ausland zu reisen bzw. westliche Spezialisten bei sich zu empfangen. Beide Angebote schlug man aber ab. Ein seltsames Verhalten für diejenige, die das Bestreben nach der Wahrheitsfindung an die grosse Glocke hängen.
Allein der Versuch, dieser Geschichte einen politischen Anstrich zu verleihen ist schon eine abgedroschene und eingeplante Provokation, also etwas, womit sich Herr Nawalny seit vielen Jahren beruflich beschäftigt und sich dabei der Unterstützung seiner ausländischen Gönner erfreut. Man kann diese Tätigkeit jedoch unmöglich als Politikmachen bezeichnen. Diese Meinung teilt die absolute Mehrheit der oppositionellen Parteien in Russland. Denke man nur an heftige Kritik vom Gründer der Partei „Jabloko“, einem altgedienten Oppositionellen Jawlinski. Er verurteilte die Methoden des Bloggers, die auf das „Aufhetzen der primitiven sozialen Feindschaft“ abzielen, und unterstrich, dass das demokratische Russland, Respekt vor Menschen, Freiheit, Leben ohne Angst und Repressionen mit Nawalnys Politik nicht zu vereinbaren sind.
Grosses Aufsehen in der russischen Gesellschaft erregte der Versuch Nawalnys und seiner Anhänger, Minderjährige für die Proteste auszunutzen. Dies ist nicht nur ein Verbrechen, vor allem gegenüber seinen eigenen Mitbürgern, sondern auch eine Niederträchtigkeit und eine moralische Dekadenz.
Wem wollen Sie denn die Lorbeeren eines Menschenrechtlers aufsetzten? Wohl einem Verbrecher, einem Provokateur und einer moralisch dekadenten Person, die sich nicht davor scheut, Kinder für seinen eigenen Aufstieg auszunutzen. Wäre es für die westliche Presse nicht an der Zeit, Rosabrillen abzusetzen und sich darüber Gedanken zu machen, wen man hier so leidenschaftlich über das Gesetz zu stellen fordert? Und sich alsdann zu fragen, wären wir nicht selber unwillkürlich zu einem Instrument in einem fremden Spiel geworden?
Frau Breier zieht in ihrem Artikel zahlreiche historische Parallele und vermischt dabei Epochen und Ereignisse. So sind der Zerfall des Sowjetblocks Anfang der 1990er Jahre und der Staatsstreich in der Ukraine 2014 zwei ganz verschiedene Paar Schuhe. Den Kampf gegen die Korruption oder Privilegien nutzen oft gerade randständige politische Kräfte, welche nicht imstande sind, die Gunst der Wähler auf legalem Wege zu gewinnen. Ihre Aufgabe besteht darin, die Gemüter in der Gesellschaft zu erhitzen und die Situation aus dem Gleichgewicht zu bringen. Dabei sind diesen Kräften alle Mittel recht, auch Betrug und Verdrehung der Tatsachen. Übrigens, die Autorin des oben erwähnten Artikels vergass offensichtlich zu erwähnen, dass gegen den «Hauptbekämpfer» der Korruption in der Ukraine, Ex-Präsidenten Poroschenko, der sich aktiv am Sturz seines Vorgängers Janukowitsch beteiligte, zurzeit über 20 Strafverfahren eben wegen der Korruption laufen.
Es ist sinnlos, Ähnlichkeiten zwischen den Ereignissen rund um den Zerfall der Sowjetunion und der heutigen Situation zu suchen. Zurzeit sind schlicht weder wirtschaftliche noch soziale Voraussetzungen vorhanden, die es damals gegeben hatte. Dabei ist die Erinnerung daran, wie schmerzlich die Folgen des Zusammenbruchs des sowjetischen Staates für die Bürger unseres Landes waren, ist nach wie vor sehr stark. Wer diese Krisenzeit erlebt hatte, will keine Wiederholung. Gerade deshalb streben Nawalny und seine Anhänger so eifrig nach Unterstützung bei den Jugendlichen, die entweder eine vage oder gar keine Vorstellung von der damaligen Zeit hat.
Hierbei wäre ein Zitat aus dem bekannten amerikanischen Philosophen und Schriftsteller George Santayana angebracht: «Wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen». Ein äusserst wahrer und aktueller Spruch. Zum Glück gilt er uns nicht – wir kennen unsere Geschichte bestens. Wir registrieren jedoch immer wieder die Versuche des Westens, uns irgendeine alternative Geschichtsdarlegung, welche mit den reellen Ereignissen und deren Einschätzungen, nichts gemeinsam hat, aufzuzwingen.
Wir haben in den letzten Jahrzehnten viele Staatstreiche in verschiedenen Ländern gesehen. Diese versteckten sich unter schönen Namen: «Rosenrevolution», «Revolution der Würde», «Arabischer Frühling». Mangelnde Kreativität kann man den Organisatoren wahrlich nicht vorwerfen. Polichinelles Geheimnis ist jedoch, dass all diesen Ereignissen, eine schlecht verdeckte oder gar unverhohlene Beteiligung Washingtons zugrunde liegt. Die USA glauben nämlich, dass sie im Recht sind, globale Tagesordnung nach ihrem Gutdünken zu bestimmen. Die Folgen einer solchen Einmischung sind gut bekannt: «Demokratisierung» des Irak und die Zerstörung des Staatswesens in Libyen, flankiert mit der brutalen Ermordung seines Leaders, führten zu einem beispiellosen Ausbruch des internationalen Terrorismus und zur Flüchtlingskrise. Die «Revolution der Würde» verursachte in der Ukraine ein drastisches Sinken des Lebensstandards, eine nicht enden wollende militärische Auseinandersetzung, die bereits über zwölftausend Menschenleben forderte, und eine Diskriminierung der Rechte und Freiheiten der nationalen Minderheit ohnegleichen.
Es ist verwunderlich, wie gefügig viele europäische Staaten die Zeche für diese aussenpolitischen Aventüren der Freunde hinter dem grossen Teich zahlen, auf Kosten der eigenen Steuerzahler, versteht sich. Allein die jährlichen Auszahlungen an die Türkei für die Flüchtlinge betragen Milliarden Euro. Noch verwunderlicher erscheint, dass Europa selber eifrig fragwürdige Initiativen unterstützt, welche ganz offensichtlich zur Entstehung neuer Instabilitätsherden in unmittelbarer Nachbarschaft führen. Man erinnere sich nur an Jugoslawien und die Ukraine. Transatlantische Solidarität ist in der Tat eine recht kostspielige Sache. Auch die US-amerikanische Art, auf eigene Faust Entscheidungen zu treffen, für deren Auswirkungen die Europäer die Kosten zu tragen haben, stimmt nicht gerade optimistisch ein.
Wir wollen aber von historischer Handreichung zurück zum Thema Proteste in Russland kehren und unseren europäischen Partnern eine Frage stellen: ausgehend von den eigenen schmerzhaften Erfahrungen der letzten Jahre, hätten sie in der Geschichte mit Nawalny wirklich keine, nicht einmal leise Zweifel daran, dass sie, wie es schon oft der Fall war, in einem fremden Theaterstück spielen, dessen Finale ihnen unbekannt ist? Man darf nicht vergessen – wer die Geschichte nicht kennt, ist dazu verurteilt, sie zu wiederholen.