Antwort des Botschafters der Russischen Föderation in der Schweiz Sergei Garmonin auf den Kommentar von Andreas Rüesch in NZZ vom 30.12.19
Hysterisch, aber nicht historisch
Der Kommentar von A.Rüesch in der NZZ von 30. Dezember 2019 löst zumindest Befremden aus.
Dr. Andreas Rüesch hat bekanntlich die Geschichte Russlands und osteuropäischer Länder studiert und eine Dissertation über die Wirtschaftsreformen unter Gorbatschow und Jelzin geschrieben. Wir schliessen deshalb allein den Gedanken, dass er sich in der Geschichte schlecht auskennt, aus. Das heisst er liess in seinem Beitrag vorsätzlich unbequeme Tatsachen aus, um seine Geschichtsklitterung der Idee anzupassen, dass gerade Russland in der Zwischenkriegszeit eine Art Aggressor wäre.
Hier sind einige von diesen Tatsachen.
1. Nach Ansicht von Herrn Rüesch wäre die Sowjetunion Schuld am Ausbruch des globalen Militärkonflikts – des zweiten Weltkrieges, weil sie einen „deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt mit dem geheimen Zusatzprotokoll vom August 1939“ unterzeichnete und „Hitler vor 80 Jahren den Weg für seinen Angriff auf Polen und damit zur Entfesselung des Zweiten Weltkriegs ebnete“. Dabei erwähnt er nur beiläufig das Münchener Abkommen aus dem Jahr 1938 zwischen Nazi-Deutschland, faschistischem Italien, Großbritannien und Frankreich, welches zuerst zur faktischen Aufteilung der Tschechoslowakei im März 1939 unter Deutschland, Polen und Ungarn führte und schließlich in ihrer Auflösung als einen selbständigen Staat endete. Diese Taten, die Hitlers Drang gen Osten richteten und die Gründung einer Anti-Hitler-Koalition zu der Zeit verhinderten, wurden zum wahren Auftakt zum zweiten Weltkrieg. Ausgeblendet wird auch die Tatsache, dass es gerade Polen was, das als einer der ersten Staaten 1934 mit Hitler einen Nichtangriffspakt unterzeichnete und nach dem Münchener Abkommen, wie es Churchill formulierte, wie eine Hyäne agierte und sich von der Tschechoslowakei Teschen-Gebiet schnappte.
Dem Abschluss des Nichtangriffspaktes mit Deutschland im Januar 1934 folgte die Unterzeichnung eines geheimen Protokolls, das zunächst in den französischen Quellen erwähnt wurde und später, am 20. April 1935 in den sowjetischen Zeitungen veröffentlicht wurde. Gemäß des Protokolls gewährte Polen im Fall eines Angriffs Deutschlands auf Litauen oder die UdSSR den deutschen Truppen den freien Durchgang über sein Territorium. Wer ist in dem Fall ein Komplize von Nazis? Die Sowjetunion oder Polen?
Der sowjetisch-deutscher Nichtangriffspakt 1939 war eine Antwort auf das Münchener Abkommen. Ohne dieses Abkommen hätte es auch den sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt nicht gegeben. Diese unbequeme Tatsache wird im Beitrag von Herrn Rüesch ausgeklammert.
2. Einer Präzisierung bedarf auch die Behauptung von Herrn Rüesch, wonach „die Sowjetunion sich zur Komplizin der Nazis machte, bald nach Hitlers Angriff den Osten Polens besetzte und sich 1939/40 sechs Staaten ganz oder teilweise einverleibte“. Historiker Rüesch ist anscheinend nicht im Bilde, dass Polen die von der Roten Armee am 17. September 1939 befreiten westlichen Gebiete der Ukraine und Weißrussland von Russland, welches vom Bürgerkrieg geplagt wurde, 1921 an sich riss. Warschau versuchte damals, so viel Territorium wie möglich einzuverleiben und womöglich, die Königliche Republik der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen A mari usque ad mare wiederherzustellen. Die Zwangspolonisierung der Bevölkerung dieser Gebiete artete in den 1920er Jahren in einen unverhohlenen Staatsterror aus. Man könnte sich auch an das Schicksal vom Vilnius-Gebiet und von der Stadt Vilnius erinnern (heutzutage Hauptstadt von Litauen). Dieses Territorium trennte Polen durch Gewalt vom jungen unabhängigen Litauen in den 1920er ab. Ab den 17. September 1939 war das Vilnius-Gebiet unter der Kontrolle der Roten Armee. Die UdSSR gab dieses Gebiet und die Stadt Litauen zurück – einer zu der Zeit ziemlichen bourgeoisen Republik.
Den antideutschen Charakter der sowjetischen Aktion vom 17. September 1939 hat beispielsweise Winston Churchill verstanden. In seiner per Funk übertragenden Rede am 1. Oktober 1939 erklärte er Folgendes: „Das die Russen an dieser Linie stehen mussten war absolut notwendig für die Sicherheit Russlands vor Nazi-Drohung. Wie dem auch sei, diese Linie existiert, die Ostfront ist damit gegründet und Nazi-Deutschland wird sich nicht wagen, diese anzugreifen“. Als die sowjetischen Truppen in Polen einmarschierten, stuften dies weder Frankreich, noch Großbritannien, noch Polen selbst als einen Kriegsakt ein.
Was die Beziehungen zwischen der UdSSR und Deutschland anbelangt, so kam es in Folge von Vereinbarungen im Zeitraum August-September 1939 zu keiner „Allianz“ zwischen den Ländern. Im Grunde genommen verpflichtete sich die Sowjetunion mit diesem Abkommen mit Berlin, innerhalb der nächsten 10 Jahre Deutschland nicht anzugreifen. Indem die Sowjetunion ihre Grenze weiter gen Westen verlegte, verlegte sie gleichzeitig die Front des künftigen Krieges weiter weg von ihrer überlebenswichtigen Zentren um 300 Kilometer.
3. In seiner Kolumne blendet Herr Rüesch aus, dass die jüngsten Aussagen von Präsident Putin, auf die er sich beruft, den Holocaust betrafen und die „endgültige Lösung“ der jüdischen Frage durch die Nazis. Der Präsident Russlands nannte den polnischen Botschafter in Nazi-Deutschland in den 30er Jahren „ein Gesindel und ein antisemitisches Schwein“, weil er versprochen hatte, ein hervorragendes Hitler-Denkmal in Warschau für die Ausschaffung der Juden nach Afrika zu errichten, wo sie aussterben und vernichtet werden sollten. In diesem Zusammenhang zitierte Wladimir Putin aus einem Bericht des polnischen Botschafters an seinen Minister Beck.
4. Wir möchten Herrn Rüesch daran erinnern, dass die Sowjetunion, im Gegenteil zum zaristischen Russland und zu den meisten osteuropäischen Ländern der Zwischenkriegszeit, keine Verfolgung von Juden ausübte. Gerade in der UdSSR wurde 1934 das erste in der zeitgenössischen Geschichte jüdische Staatsgebilde – die Jüdische Autonome Republik – gegründet, die bis jetzt existiert. Hitler bezeichnete in seinem berüchtigten Buch Mein Kampf Sowjetrussland als eine jüdische Diktatur von Marxisten, die abgeschafft gehört. Könnten da wirklich Verbündete sein, wie es Herr Rüesch behauptet?
3. Niemand hat die Absicht, vom „späteren Opfer Polen einen perfiden Täter“ zu machen, wie es der Journalist sagt. Allerdings darf man auch nicht vergessen, dass in Polen und anderen osteuropäischen Ländern mehrmals zu jüdischen Pogromen kam, sogar nach Ende des Zweiten Weltkrieges. Der grösste wütete 1946 in der polnischen Stadt Kielce, wo laut Einschätzungen von Historikern, bis zu 50 von den 200 Holocaust-Überlebenden Juden ermordet wurden.
Zu behaupten deshalb, dass die Sowjetunion eine „Komplizin“ von Nazi-Deutschland wäre, die den Krieg entfesselte, ist eine grobe Fälschung und eine historische Simplifizierung, was auch Herr Rüesch offensichtlich weiss, aber aus irgendeinem Grund verschweigt. In solcher Form ist seine Darlegung eher hysterisch als historisch.