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11 September / 2019

Kriegsschuld

11.09.2019

Von Sergei Kudriavtsev

     

Achtzig Jahre nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges werden erneut viele Theorien gewälzt, wie es zu dieser grössten Tragödie des 20. Jahrhunderts kommen konnte. Ein Informationsfeldzug läuft auf Hochtouren. Sein Ziel ist es, die historische Schuld für den Beginn dieses Konflikts auf die Sowjetunion abzuwälzen. Zu diesem Zweck werden Ereignisse aus dem Kontext gerissen, die mit Dokumenten belegten historischen Fakten werden verdreht oder verschwiegen. So kritisiert man beispielsweise aufs schärfste den in der Nacht auf den 24. August 1939 in Moskau unterschriebenen sowjetisch-deutschen Nichtangriffspakt («Wie unter Parteigenossen», Neue Zürcher Zeitung, 23. August 2019). Kaum jemand erinnert jedoch daran, was die sowjetische Führung zu diesem Schritt bewogen hatte. Die Tatsachen sprechen für Folgendes.

Nach dem Ende des Ersten Weltkrieges strebten Grossbritannien, Frankreich und die USA als Sieger danach, ihre Dominanz durch Schwächung potenzieller Widersacher zu festigen. Deutschland wurde demilitarisiert, mit Reparationszahlungen belegt und in seinen Rechten beschränkt. Das Osmanische Reich und Österreich-Ungarn wurden zerteilt, und das sowjetische Russland befand sich in der internationalen Isolation. Aus den Trümmern des Russischen Reiches entstanden entlang unserer westlichen Grenzen neue Staaten, in denen meist nationalistische Regime herrschten.

Chamberlains Schande

Der flächengrösste von diesen Staaten war Polen, an das Russland westliche Regionen Weissrusslands und der Ukraine abtreten musste. Die Zwangspolonisierung der lokalen Bevölkerung artete Ende der zwanziger Jahre in unverdeckten Staatsterror aus. Wie Grossbritannien und Frankreich in Wirklichkeit gegenüber Polen gesinnt waren, zeigten die Verträge von Locarno (1925). Damals schon galt in Bezug auf Deutschlands Grenzen: Die westlichen sind unantastbar, an den östlichen haben die Deutschen freie Hand. Mit anderen Worten: Der wachsende deutsche Revanchismus wurde nicht unterdrückt, sondern in die «richtige», also östliche Richtung gelenkt.

Am 29. September 1938 fand in München eine Konferenz statt, an der Nazideutschland, das faschistische Italien, Grossbritannien und Frankreich einen Vertrag unterzeichneten. Als dessen Folge wurde im März 1939 die Tschechoslowakei zwischen Deutschland, Polen und Ungarn zuerst aufgeteilt und später vollständig als unabhängiger Staat abgeschafft. Diese Handlungen, die Hitlers Drang gegen Osten offenbarten, wurden zum wahren Vorspiel des Zweiten Weltkriegs. Damit war die Schaffung einer Anti-Hitler-Koalition unmöglich geworden. Bemerkenswert ist, wie Churchill das Geschehene in einer Rede im House of Commons zusammenfasste: Als es gegolten habe, zwischen Schande und Krieg zu wählen, habe sich Premierminister Chamberlain für die Schande entschieden – und werde trotzdem den Krieg bekommen. Die Geschichte gab ihm recht.

Fakt ist, dass die UdSSR nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten in Deutschland auf eine Politik der gesamteuropäischen Kollektivsicherheit setzte. Die sowjetische Regierung unterstützte die Initiative des französischen Aussenministers Louis Barthou, der alle mittel- und osteuropäische Staaten, einschliesslich der Sowjetunion und Deutschlands, an einem Pacte de l’Est beteiligen wollte. Hitler lehnte diesen Vertrag rundheraus ab. Die Ironie des Schicksals wollte es, dass Hitler dabei eifrig von Polen unterstützt wurde. Der blinde Antisowjetismus der polnischen Regierung trieb das Land in die Einflusszone Hitlers. Die Deutschen förderten diese Entwicklung. Sie gaben den Polen 1938 einen Teil der Tschechoslowakei und versprachen ihnen später die sowjetische Ukraine und den Zugang zum Schwarzen Meer. Das lässt sich nachlesen in den Gesprächsprotokollen der Aussenminister Deutschlands und Polens, Joachim von Ribbentrop und Józef Beck, vom Januar 1939 in Warschau.

Beispiellose Konzessionen

An der Schwelle zum Krieg, am 17. April 1939, kam es in Moskau zu Verhandlungen mit Frankreich und Grossbritannien, mit dem Ziel, doch noch eine Anti-Hitler-Koalition in die Wege zu leiten. Diese scheiterten, weil London keine Anstalten machte, sich mit Moskau zu verständigen. Die Briten sahen in Hitler damals lediglich einen widerspenstigen Alliierten, dem es mit einem hypothetischen Bündnis mit den Russen Angst einzujagen galt. Erst nachdem die sowjetische Führung sich endgültig von der Aussichtslosigkeit der Gespräche mit London und Paris überzeugt hatte, nahm sie direkte Verhandlungen mit Deutschland auf. Am 23. August traf in Moskau eilig Aussenminister von Ribbentrop mit seinem Gefolge ein. Die deutschen Diplomaten machten beispiellose Konzessionen an die sowjetischen Vertreter um Aussenminister Molotow, um die sowjetische Neutralität in der polnischen Kampagne zu sichern.

Diese taktische Einigung mit Berlin gewährte der Sowjetunion anderthalb Jahre Frieden und ermöglichte es ihr, die Grenze zu Deutschland weiter in Richtung Westen zu verschieben. Die wichtigste Aufgabe zu der Zeit war die Gewährleistung der nationalen Sicherheit. Keiner glaubte wirklich an einen dauerhaften Frieden. Bemerkenswert ist, dass die Unterzeichnung des Nichtangriffspaktes in Warschau keine grossen Wellen schlug – im Gegensatz zu Tokio, wo sie heftig verurteilt wurde. Eben dieser Schritt hielt Japan aber von einem Angriff auf die Sowjetunion 1941 ab.

Sturmangriff auf Berlin

Nur eine Woche nachdem der Molotow-Ribbentrop-Pakt besiegelt worden war, brach am 1. September 1939 der Zweite Weltkrieg aus. Dies war die grösste Niederlage Grossbritanniens und Frankreichs. Vom Wunsch geleitet, sich selber zu schützen und Deutschland zum Überfall auf die Sowjetunion anzuspornen, fielen sie ihrer eigenen Intrigen zum Opfer. Später musste die Sowjetunion die grausamsten Schläge von Nazideutschland über sich ergehen lassen. Auf ihrem Territorium wurden die grössten Schlachten des Krieges ausgetragen, die auch dessen Ausgang bestimmten. Es lässt sich deshalb tatsächlich sagen, dass die Rote Armee dank Tapferkeit und Selbstlosigkeit ihrer Soldaten mit dem Sturmangriff auf Berlin den Krieg siegreich beendete. Dabei haben wir beim Sieg niemals zwischen «unserem» und «fremdem» unterschieden. Der Beitrag der Alliierten – all jener, die Schulter an Schulter gegen den Nazismus für Wahrheit und Gerechtigkeit gekämpft hatten – wurde stets hochgeschätzt.

Für den Sieg zahlte die Sowjetunion einen ungeheuren Preis. Die Zahl der Opfer war kolossal – 27 Millionen Tote waren zu beklagen. Das ist eine grauenvolle Zahl, die jene der Bevölkerung der Schweiz um mehr als das Dreifache übertrifft. In Russland gibt es keine einzige Familie, die vom Konflikt nicht betroffen war. Gerade deshalb ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, in Russland «Grosser Vaterländischer Krieg» genannt, nach wie vor so präsent.


Sergei Kudriavtsev ist Geschäftsträger a. i. der Botschaft der Russischen Föderation in der Schweiz.